Freitag, 11. April 2014

Donna Tartt - Der Distelfink


Eigentlich sollte es ein ganz normaler Tag im Leben  von Theo Decker werden. Da er und seine Mom noch Zeit zu überbrücken haben, entschließen sie sich zusammen das Museum zu besuchen. Seine Mutter interessiert sich sehr für Kunst und möchte ihrem Sohn ein paar besondere Gemälde zeigen. Doch dann passiert schreckliches und Theos Mutter ist tot. Sein Vater ist ein Jahr zuvor abgehauen und der 13-jährige steht plötzlich ganz alleine da. In seiner Verwirrung und dem Chaos nach dem Tod seiner Mutter hat er ein Gemälde entwendet, das sein ganzes weiteres Leben bestimmten soll. Er trifft ein paar falsche Entscheidungen und steht plötzlich an einem Punkt, an dem er nicht mehr weiter weiß. Ist jetzt wirklich alles vorbei? Gibt es nur noch den Ausweg des Selbstmordes? Oder gibt es doch noch Hoffnung?

Dieses Buch hat es wirklich in sich. Genau wie für ihre anderen Bücher hat die Autorin auch an diesem jahrelang gefeilt, recherchiert und geschrieben. Und das merkt man diesem Buch auch an. Hier stimmt jeder Satz, jedes Wort sitzt an der richtigen Stelle. Die Geschichte beginnt in New York. Theo und seine Mum haben eine sehr enge Beziehung. Zwischen ihm und seinem Vater ist eine große Distanz. Der Vater ist fast immer betrunken und hat so gut wie kein Interesse an seinem Sohn. Als er schließlich verschwindet, trauern ihm Frau und Sohn auch nicht hinterher. Aber als Theo seine Mutter verliert, verliert er auch seinen Lebenswillen. Er funktioniert nur noch wie ein Automat. Nicht einmal die vielen Veränderungen in seinem Leben können ihn aus seiner Trauer herausholen.

Theo versackt schließlich in Alkohol und Drogen. Doch er findet auch einen Freund der ihm näher steht als sonst irgend jemand zuvor. Mit Ausnahme seiner Mutter natürlich. Die Protagonisten sind sehr gut ausgearbeitet und facettenreich. Donna Tartt ist es gelungen, ihren Personen so viel Leben einzuhauchen, dass ich oft dachte, ich müsste Theo oder Boris jeden Moment begegnen. Ich konnte sie regelrecht vor mir sehen. Ihre Mimik, ihre Gestik, ihr ganzes Sein. Das schaffen nur sehr wenige Autoren. Ich litt so sehr mit Theo und konnte gleichzeitig alles aus einer gewissen Distanz betrachten. 

Hier ist mal ein kleiner Ausschnitt der mich besonders berührt hat:
"Die Leute spielten Roulette oder Golf, pflanzten Gärten, handelten mit Aktien, hatten Sex, kauften neue Autos, machten Yoga, arbeiteten, beteten, renovierten ihre Häuser, regten sich über die Nachrichten auf, verhätschelten ihre Kinder, tratschten über die Nachbarn, studierten Restaurant-Kritiken, gründeten wohltätige Organisationen,  unterstützten politische Kandidaten, nahmen an den U.S. Open teil, speisten und reisten, lenkten sich mit allen möglichen Spielzeugen und Geräten ab und überfluteten sich unaufhörlich mit Informationen und Texten und Kommunikation und Unterhaltung aus allen Richtungen, um vergessen zu machen wo wir waren, was wir waren. Aber bei hellem Licht betrachtet ließ es sich auf keine Weise schönreden. Es war von oben bis unten beschissen. Zeit im Büro absitzen, gehorsam 2,5 Kinder Nachwuchs gebären, bei seiner Pensionsfeier höflich lächeln und dann an seinem Bettlaken kauen und im Pflegeheim an Pfirsichen aus der Dose ersticken. Es war besser, nie geboren worden zu sein - nie etwas gewollt - nie etwas gehofft zu haben. " (Seite 633)

Am Ende des Buches gibt es noch eine Passage über gut und böse, die ich auch unglaublich gut fand. Die letzten ca. 40 Seiten würde ich am Liebsten auswendig lernen, weil sie mich so tief beeindruckt haben. Ich weiß, dass Donna Tartts Schreibstil nicht jedem liegt, ihre genauen Beschreibungen und Liebe zum Detail. Aber für mich flogen die 1022 Seiten geradezu vorbei. Ich las mich in einen regelrechten Rausch. Darum vergebe ich für "Der Distelfink" volle 5 von 5 Byrons und den Favoritenstatus für eine absolut außergewöhnliche Geschichte. Wer "Die geheime Geschichte" mochte wird "Der Distelfink" lieben. 

© Beate Senft