Sonntag, 20. Oktober 2013

Sarah Stricker - Fünf Kopeken



Meine Mutter war sehr hässlich.  Alles andere hätte mein Großvater ihr nie erlaubt. „Doofsein kannst du dir mit dem Gesicht wenigstens nicht erlauben“, sagte er, und wie mit allem im Leben hatte er natürlich auch damit recht. Also machte meine Mutter das, was sie am besten konnte: alle stolz. Mein armer Großvater konnte sich kaum entscheiden, welche ihrer tollen Begabungen das gesamte Gewicht seiner übersteigerten Erwartungen am meisten verdiente. Das Einzige, wozu meiner Mutter leider völlig das Talent fehlte, war die Liebe.


Eigentlich ist es nicht meine Art einfach den Klappentext zu kopieren, aber bei diesem Buch blieb mir einfach nichts anderes übrig. Jedes falsche Wort wäre eine Katastrophe, jedes Wort zu viel, würde den Zauber der Geschichte zerstören. Ich hoffe, ihr seht mir das nach.


Ich ging ganz ohne irgendwelche Erwartungen an das Buch heran. Ich hatte zwar im Vorfeld gehört, dass das Buch sehr gelobt wird, aber darauf gebe ich nichts. Ich bilde mir meine Meinung gerne selbst und oft genug konnte ich mich nicht den Lobpreisungen der Kritiker anschließen oder liebe ein verrissenes Buch ganz besonders. Doch hier schlug ich das Buch auf und war sofort in der Geschichte gefangen. Beim ersten Abschnitt hatte es mich total gepackt und ließ mich nicht mehr los. Auch nicht, als das Buch schon lange beendet war. Damit ihr vielleicht verstehen könnt was mit mir beim Lesen geschah, möchte ich sehr gerne den ersten Abschnitt zitieren:

„Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte mein Großvater ihr nie erlaubt. Sie war dürr und bleich, ihre Haut wollte keine rechte Farbe annehmen, nur ihre Nase lief pausenlos rot an, wenn sie sich ärgerte oder zu sehr freute, wenn sie fror, wenn sie schwitzte oder einfach nur so, aus purer Boshaftigkeit des Körpers. Sie hatte ein spitzes Kinn und einen noch einen spitzeren Mund, hinter dem ihre Schneidezähne zackig nach vorne drängten, auch wenn das von all den Schönheitsfehlern meiner Mutter wahrscheinlich noch das kleinste Übel war, denn viel zu lachen hatte sie nicht. Wenigstens war sie blind wie ein Fisch, sodass ihr der eigene Anblick die ersten Jahre erspart blieb. Erst als in der dritten Klasse ihre Lehrerin bemerkte, dass sie kein einziges Wort von der Tafel lesen konnte, bekam meine Mutter eine dicke Nana-Mouskouri-Brille, hinter der ihre Augen wie zwei Wasserfarbenklekse verschwammen.  (Fünf Kopeken Seite 5)


Diese Sätze packten mich, vernebelten mir die Sinne und ließen mich an nichts mehr anderes denken als an dieses Buch und seine Geschichte. Die Erzählerin, die Tochter der oben beschriebenen Frau, erzählt die Geschichte ihrer Großeltern und ihrer Mutter. Eigentlich ist es so, dass sie die Geschichte aufschreibt, die ihr ihre Mutter auf dem Sterbebett erzählt. Sie beginnt mit den Großeltern, erzählt die Geschichte ihres Lebens, ihrer Erfolge, der Niederlagen und die Geburt ihres Kindes, dessen Name nicht einmal im Buch erwähnt wird. Dann folgt die Geschichte des Kindes, das sich langsam in eine Frau verwandelt und dabei immer versucht den Ansprüchen ihrer Familie gerecht zu werden. Und ich kann euch verraten: das ist eine komplett verkorkste und kaputte Familie. Die Großmutter total hysterisch und egoistisch, der Großvater ein echter Despot und die Mutter ein verhuschtes Mäuschen, die es immer jedem recht machen möchte. Bis sie schließlich.... neee, das verrate ich nicht.Und dann schließlich noch die Geburt der Erzählerin selbst. Zwischendurch flicht die Erzählerin immer wieder ihre eigenen Gedanken oder Erinnerungen ein, so dass wir am Ende ein komplettes Bild erhalten.


Der Schreibstil ist nicht ganz einfach, denn die meisten Sätze sind sehr lang und verschachtelt. Manchmal auch etwas zusammenhanglos, was sehr gut den Zustand der Mutter widerspiegelt. Auch die pfälzischen, russischen, französischen oder sonstigen Ausdrücke machen das Buch nicht einfacher. Wobei ich mich über die Pfälzer Ausdrücke sehr gut amüsiert habe, bin ich doch auch waschechter Pfälzer. „Fünf Kopeken“ ist mit Sicherheit kein Buch das man mal so schnell nebenher liest, man muss es genießen, sich auf der Zunge zergehen lassen. Dann entfaltet es seine ganze Wirkung und offenbart seine Köstlichkeit. Ich könnte jetzt noch Stunden lang weiter schwärmen, aber dieses Buch muss man einfach selbst gelesen haben, denn mit meinen Worten werde ich ihm einfach nicht gerecht. Einziger Kritikpunkt sind etliche Druckfehler und Worte die vergessen wurden. Aber nicht einmal das konnte meine Lesefreude trüben. Ich vergebe für dieses außergewöhnliche und einzigartige Buch 5 von 5 Byrons, den Favoritenstatus und eine absolute Leseempfehlung für alle, die auch mal was ganz anderes lesen möchten. Ja, ich bin total begeistert. Mein Lesehighlight des Jahres 2013.


© Beate Senft                      

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